Presse

Freitag

Kalt erwischt

Auszug

Ausgabe 19, 2. Mai 2003 (Seite 3)
von Rainer Fischbach

… Was allerdings verwundert, ist die Tatsache, dass sich praktisch widerspruchslos ein Knappheitsdiskurs etablieren konnte, der nur noch das Phänomen - fehlende Arbeitsplätze - reflektiert, aber sich kaum noch fragt, wie die gnadenlos fortschreitende Produktivität emanzipatorisch, im Sinne von mehr Freiheit, gewendet werden könnte.

Von vergleichbarer Logik sind die Arzneien, die widerspruchslos hingenommen werden. Beispiel Rentensystem: Bei einer kopflastigen Alterspyramide müssten die Bürger - so der Appell an die Selbstverantwortung - in der manch weichgespülter Linker natürlich eine förderungswürdige zivilgesellschaftliche Tugend sieht, halt selber Vorsorge treffen. Ob diejenigen, die solche Vorschläge wiederholen, sich der Infamie der darin eingeschlossenen Gegenüberstellung bewusst sind? Denn unterschwellig wird behauptet, dass sozialstaatliche Umverteilung ebenso unproduktiv wie moralisch minderwertig sei und selbstverantwortliche Vorsorge produktiv und moralisch empfehlenswert. Offenkundig ist doch die Kindlichkeit der Vorstellung, durch eine private Altersvorsorge sei es möglich, tatsächlich etwas fürs Alter auf die Seite zu legen, wo staatliche Umverteilung zwangsläufig versage. Doch Volkswirtschaften können kein Geld auf die Seite legen. Alle Ansprüche müssen aus dem verfügbaren Produkt befriedigt werden, ob sie nun aus eingezahlten Rentenbeiträgen oder aus Kapitalmarkttiteln stammen. Das angeblich der Rentenkrise zugrunde liegende Problem einer aus dem Gleichgewicht geratenen Alterspyramide ist mit der Kapitaldeckung so wenig adressiert wie mit der traditionellen Umlagefinanzierung.

Alterssicherung ist zwangsläufig immer Umverteilung. Der Unterschied zwischen der kapitalgedeckten und der umlagefinanzierten Alterssicherung besteht nur in der Art der Titel, auf deren Grundlage sie erfolgt. Dass nun private Finanzmärkte das Geschäft der Umverteilung effizienter und zuverlässiger erledigen als öffentliche Versicherungsträger, ist genau so unplausibel wie die populäre Annahme, Einzahlungen für die kapitalgedeckte Rente würden im Gegensatz zum herkömmlichen System der gesetzlichen Rente zum Wachstum des Produktivvermögens beitragen.

Was hier zum Vorschein kommt, ist das Unvermögen, zwischen Real- und Finanzinvestitionen zu unterscheiden. Nicht jeder Erlös aus dem Verkauf von Aktien fließt in Produktionsanlagen oder in Forschung und Entwicklung, und schließlich ist selbst im letzteren Fall nicht gesichert, dass die Investition sich auch profitabel verwerten lässt. Die Möglichkeit von Verwertungskrisen liegt gerade in der Abwesenheit solcher Garantien beschlossen und der New-Economy-Crash machte deutlich, dass man von den Finanzmärkten bezogene Mittel auch schlicht verschwenden kann.

An dieser Stelle pflegt ein Syndrom aufzutreten, das die Fähigkeit zum klaren Denken zunehmend beschränkt: Die Neigung, eine Äußerung nicht mehr nach ihrem Inhalt zu beurteilen, sondern nur noch in ihrem assoziativen Zusammenhang.